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Internet-Suchtigen kommt ihre unmittelbare Umwelt unwirklich vor

FRANKFURT, im Januar. Als Tom Kittner (Name geandert) im vergangenen Sommer aus seinem Urlaub in England zuruckkam, ging er wie gewohnt sofort an seinen PC und versuchte, sich einzuloggen. Viermal probierte er vergeblich, die Verbindung zum Internet herzustellen. Dann rastete er aus. Es kam eine Wut in ihm hoch, die er so noch nicht erlebt hatte. Er schrie und heulte und verfluchte seine Mutter, die wahrend seiner Abwesenheit den Internetzugang hatte sperren lassen. Wenig fehlte, und er ware gewalttatig geworden. "Es war die Holle", sagt Kittner. "Es war, als hatte man mir mein Leben weggenommen." Drei bis vier Monate habe er gebraucht, um in seinem Leben einen Sinn jenseits des Internets zu finden. Erst jetzt, ein halbes Jahr spater, sei er wieder der Alte.
Tom Kittners Leben hatte eineinhalb Jahre lang fast ausschlieblich aus der virtuellen "!a href=.com://www.akgame.com>wow gold" bestanden. Mit 15 Jahren hatte er mit dem Online-Spiel angefangen, das in Deutschland von rund sechs Millionen Usern gespielt wird. Zuerst zwei Stunden taglich. Dann verbrachte er immer mehr Zeit vor dem PC, und er begann, sich ganz von der Aubenwelt zuruckzuziehen. Kaum aus der Schule zuruckgekommen, ging es ihm bald nur noch darum, sich moglichst schnell in die Online-Community einzuloggen und bis in die spaten Abendstunden durchzuspielen. Mit seiner Familie sprach er in dieser Zeit fast kein Wort mehr. Ein Privatleben jenseits des Internets existierte fur ihn nicht mehr: "Ich habe meine Zeit mit den Leuten dort verbracht. Die waren meine Familie und meine Freunde."
Fur Kittners Mutter, die nicht tatenlos zusehen wollte, wie sich ihr Sohn immer weiter in der virtuellen Welt verschanzte, war es die letzte Rettung, das Internet von einem Techniker abstellen zu lassen. Auch wenn ihr Sohn ihr den kalten Entzug bis heute nicht ganz verzeiht, ist er letztlich froh uber die Konsequenz seiner Mutter. "Das kann auch richtig krass Familien zerstoren", sagt Kittner. "Ich kenne viele, die sich durch ihre Online-Sucht die schulische Karriere zerstort haben."
Es war als Scherz gemeint, als der New Yorker Psychiater Ivan Goldberg den Begriff "Internet Addicition" Mitte der neunziger Jahre zum ersten Mal als Scheindiagnose fallenlieb und ein fiktives Diagnosemuster aufstellte. Ein Scherz, der von Goldbergs Patienten und Kollegen jedoch missverstanden wurde: Immer mehr Patienten meldeten sich bei ihm und bezogen das Diagnosemuster auf sich. Auch Goldbergs Kollegen hielten den neu geschaffenen Begriff offenbar fur dringend erforderlich, um therapeutische Erfahrungen zu beschreiben, die bislang unbenannt geblieben waren. Ernsthafte Studien bezifferten in den folgenden Jahren die Internetabhangigkeit in Deutschland auf zwei bis sechs Prozent der Internetnutzer. Die Ergebnisse divergieren, je nachdem, ob die Befragungen innerhalb oder auberhalb des Internets ausgefuhrt werden. Medizinisch ist der Begriff weiterhin umstritten. Die empirische Forschung tut sich schwer, exakte Kriterien der Abhangigkeit zu beschreiben, und meidet fur gewohnlich den Begriff der Sucht. Wie die meisten Wissenschaftler spricht die Psychologin Sabine Meixner von der Freien Universitat Berlin lieber von exzessivem Internetverhalten. "Von den mabgeblichen Institutionen wie der WHO ist Internetabhangigkeit nicht als Sucht anerkannt, weil die Abhangigkeit nicht stoffgebunden ist", sagt Meixner. Die Internetseite, auf der die Wissenschaftlerin ihre Ergebnisse teilweise veroffentlicht, heibt dann aber doch www.internetsucht.de.
Die Frage nach der passenden Benennung des Phanomens scheidet Wissenschaftler und Medienberater von Therapeuten und Patienten. "Ich bin definitiv online-suchtig gewesen", sagt Tom Kittner. Auch fur Gabriele Farke, eine ehemals selbst Online-Suchtige, die sich in zahlreichen Veranstaltungen um Aufklarung uber das Phanomen bemuht, ist die Benennungsfrage eine haarspalterische Diskussion. "Die Zeiten, in denen man das als exzessive Internetbenutzung bezeichnen konnte, sind vorbei. Fur uns ist es unumstritten, dass das eine Sucht ist." Die Frage, wann von einer Sucht zu sprechen sei, ist jedoch auch fur Farke nicht leicht zu beantworten. Es gehe darum, wer wen dominiere, sagt sie. Sobald die virtuelle Realitat wichtiger als die reale werde, die Cyber-Romanze bedeutsamer als die private Beziehung und man Freude und Anerkennung eher im Netz finde als in der realen Welt, sei von Online-Sucht auszugehen. Die Ubergange seien jedoch fliebend. Oft wussten die Betreffenden selbst nicht, ob sie sich als suchtig bezeichnen sollen.
Auf Farkes Internetportal onlinesucht.de findet sich zu jedem der genannten Kriterien seitenweise Belegmaterial, das in schrillen Tonen die Folgen des langsamen Kontrollverlusts uber das Internet beschreibt. Es geht hier um Manner, die weinend neben ihrer Partnerin im Bett liegen, weil sie nach dem Konsum zahlloser Sexseiten keine Sensibilitat mehr fur sie aufbringen konnen. Es geht um Frauen, die vor Verzweiflung aufheulen, weil sie sich von den Online-Kontakten ihrer Partner hintergangen fuhlen. Es geht um verlorene Arbeitsplatze, gescheiterte Beziehungen und den Zerfall von Familien. Eine Chatterin schreibt uber ihre Schwester, die ihre Kinder vernachlassigte und ihren Mann aus der Wohnung warf, weil sie jede freie Minute am Rechner verbringen wollte. Ein anderer beklagt den Verlust seines Arbeitsplatzes. "Mir ist die Sucht sehr klar bewusst geworden, denn sie hat meine Ausbildung auf dem Gewissen! Ich habe die Prufung vergeigt, und meine beruflichen Leistungen haben sehr nachgelassen. Ich befinde mich momentan in einem Schlichtungsverfahren mit meiner Ex-Chefin, weil sie mich widerrechtlich gekundigt hat." Eine Dritte beklagt die Folgen der Online-Sexsucht ihres Ehemanns: "Ich fuhle mich, als zerreibe in mir mein Herz. Er schmiss unser gemeinsames Geld, unser Leben, unsere Beziehung und unsere Tochter einfach uber den Haufen - fur ein bisschen ,Zartlichkeit aus dem Internet'. . . . Ja, ich bin traurig. Ungemein traurig. Schockiert uber diese Nachricht: Mein Mann online-sexsuchtig." Neben der Spielsucht ist vor allem die Online-Sexsucht ein schnell wachsendes Phanomen. Die dritte Kategorie der Kommunikationssucht ist hingegen im Ruckgang begriffen.
Was sind es fur Charaktere, die Mitternachte und Wochenenden im Internet verbringen und fur das "Real", wie sie es nennen, kaum noch Interesse aufbringen konnen? Fur Sabine Meixner sind es in der Regel Personen mit einer unreif-gehemmten Personlichkeitsstruktur. Problem-User, wie Meixner sie nennt, hatten meist schon ein gewisses Profil. Sie fuhlten sich von normalen Alltagsaufgaben uberfordert, gingen Herausforderungen lieber aus dem Weg und lenkten sich ab. Das Internet sei fur solche Leute ein ideales Problembewaltigungsinstrument, sagt Meixner. Das trifft sich mit Tom Kittners Erfahrungen. Seine Mitspieler auf der virtuellen Spielwiese der "world of warcraft gold" beschreibt er als Abbild seiner selbst: Aubenseiter, die sich untereinander gut verstehen. Er selbst sei zwar eine "relativ charakterstarke Personlichkeit"; doch nachdem er fast alle Freunde in seinem Offenbacher Umfeld verloren hatte, sei auch er immer weiter in die Spielsucht hineingerutscht. Die Spielergemeinschaften, zu denen sich die "wow power leveling"-Spieler zusammenschlieben, hatten ihn dazu gezwungen, mindestens vier Stunden am Tag vor dem Computer zu verbringen. Wenn es darum geht, schwierige Aufgaben zu losen, mussen sich alle Mitglieder dieser sogenannten Gilden treffen. Wer in solchen Momenten fehlt, riskiert, vom Gildenleader ausgeschlossen zu werden und die Anerkennung zu verlieren, die er sich in der Spielergemeinschaft erworben hat.
Die Kompensation fehlender Anerkennung ist einer der vielen Grunde fur das grobe Suchtpotential des Internets. "In der virtuellen Welt ist Gratifikation leichter zu erhalten", sagt der Kolner Medienwissenschaftler Jurgen Fritz. Das Netz ist eine Welt niedriger Zugangsschwellen. In einem Chat fallt das Artikulieren der eigenen Wunsche wesentlich leichter als im "realen Leben". Die Kommunikation in den Foren ist wesentlich ungehemmter. Schon nach wenigen Minuten gemeinsam verbrachter Online-Zeit kommen die Chatter umstandslos zur Sache. Die Beziehungen, die sie dabei eingehen, sind wiederum leicht kundbar. Sie bleiben hinter Pseudonymen versteckt und mussen keine negativen Konsequenzen befurchten. "Das Internet war wie geschaffen fur jemanden wie mich", schreibt ein ehemals Internet-Suchtiger auf onlinesucht.de. "Ich hatte die Moglichkeit, unbegrenzt und vor allem anonym all meine Wunsche und Bedurfnisse zu befriedigen. Ich brauchte keine Angst mehr zu haben, dass mich jemand verletzen konnte, dass jemand mit meinen Gefuhlen spielen wurde."
Zudem erhalt man im Netz ziemlich einfach Zugang zu einer Gemeinschaft, die sich als Elite gibt. Man brauche eben kein Talent fur "World of Warcraft", sagt Tom Kittner. Wer nur genugend Zeit investiere, konne die Karriereleiter innerhalb des Spiels hochsteigen und bekomme die Anerkennung und Bewunderung, die ihm im Leben sonst vorenthalten blieben. "Im Internet war ich wer", schreibt ein anderer Teilnehmer von Farkes Onlineforum. "In dem Spiel gab es gewisse Stufen, die man erreichen konnte. Je hoher die Stufe, je hoher das Ansehen. Innerhalb von acht Monaten hatte ich die hochste Stufe erreicht. Ich wurde geachtet, ich wurde gemocht. Genau das, was ich immer wollte. Im Real haben mich meistens alle gehanselt, ich war ein Niemand. Aber im Spiel war ich ein JEMAND."
Von ihrer "realen" Umgebung frustriert, bauen sich viele Spieler eine Art virtuelle Identitat auf, die jedoch schwer auf die Belange der "realen Welt" zu ubertragen ist. Den meisten Online-Suchtigen kommt ihre unmittelbare Umwelt unwirklich und falsch vor. Weil sie den Mitmenschen virtuell eher unter taktischen Gesichtspunkten kennenlernten und Auge und Hand die einzigen Notwendigkeiten seien, die im Internet notwendig seien, konne es "zu einer unbewussten Vernachlassigung bestimmter Sinneseindrucke kommen, die letztlich zu einer Veranderung des Repertoires menschlicher Ausdrucksmoglichkeiten fuhrt", schreibt der Informatiker Wolfgang Hesse von der Universitat Marburg.
Tom Kittner hat seine gegluckte Flucht aus der Abhangigkeit vor allem seiner Mutter zu verdanken. Er kenne viele Mitschuler, deren Eltern es gleichgultig gewesen sei, wenn ihre Kinder bis in die fruhen Morgenstunden spielten, die Schule schwanzten und in der Notenskala abrutschten. Anders seine Mutter. "Sie ist einzigartig", sagt Tom Kittner. "Eine krass gute Personlichkeit und eine Powerfrau. Hut ab!"